Otto Lüdemann


UTOPIEN ZUM ANFASSEN, MEHR DENN JE AKTUELL


Von Januar bis Mai: Hamburger Utopie-Wochen machten Lust auf radikale Wirtschafts-, Geld,- Steuer- und Sozialreformen, und vor allem auf ein Bedingungsloses Grundeinkommen!

 

„Utopien tun not, mehr denn je!" sagt Philippe van Parijs, Philosoph und Ökonom von inter-nationalem Renommee, Inhaber des Hoover-Lehrstuhls für Ethik der Ökonomie und des Sozialen an der Universität Louvain (Löwen) in Belgien. Kein zufälliger Ort für diesen Satz, ist Louvain doch die Stadt, wo im Jahre 1516 Thomas MORUS sein berühmtes Buch „UTOPIA" veröffentlichte.


Utopien haben es schwer, vor allem wenn sie die Macht der Mächtigen oder den Reichtum der Wohlhabenden in Frage stellen. Andererseits waren alle wirklich revolutionären Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit, von der (zumindest offiziellen) Abschaffung der Sklaverei bis zur allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, zunächst einmal Utopien. Philippe van Parijs, selber leidenschaftlicher Verfechter eines BGE, ist auch deshalb überzeugt, dass wir Utopien mehr denn je brauchen. Dem Hamburger Netzwerk Grundeinkommen, schon 2012/13 und auch in diesem Jahr wieder Veranstalter der Hamburger Utopie-Wochen, übermittelte er deshalb ein Grußwort, in dem er an Thomas Morus erinnerte. Zu Recht, denn die Hamburger Veranstaltungsreihe sieht sich in der Tradition jenes berühmten Vordenkers. Wie bei Thomas Morus ging es auch fast 500 Jahre später in Hamburg darum, aktuelle gesellschaftliche Missstände anzuprangern und kritisch zu analysieren, z. B:
- den ungebrochenen Wachstumswahn und das Gewinnmaximierungsprinzip der Wirtschaft,
- ein immer absurderes Finanz- und Steuersystem,
- brüchig gewordene demokratische Institutionen,
- und ein an seine Grenzen stoßendes System sozialer Sicherung.
Die kritische Frage lautete: Was muss geschehen, damit die genannten gesellschaftlichen Teilsysteme wieder im Dienst der Menschen, nicht umgekehrt die Menschen nur noch im Dienst der Systeme stehen? Bei einer hochkarätig besetzten Auftaktveranstaltung am 25. Januar sowie in 4 Workshops von Februar bis April wurde hoch motiviert nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Das Schwerpunktthema Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) war dabei jeweils mit im Blick.
Bei einer Abschlussveranstaltung am 10. Mai auf Kampnagel wurde mit drei wiederum prominent besetzten Podien Bilanz gezogen.

 

Beim Auftakt nahm die Frage nach der Bedeutung des in der Gesellschaft vorherrschenden Menschenbildes eine zentrale Rolle ein.

Ist es mitverantwortlich für Missstände und Probleme? Wenn ja, wäre unter veränderten Rahmenbedingungen ein alternatives Menschenbild denkbar? In der Kontroverse um ein Bedingungsloses Grundeinkommen zeigte sich, dass der Begriff des Menschen-bildes von Befürwortern wie Skeptikern gleichermaßen in Anspruch genommen wird. Andererseits wäre niemandem gedient, wollte man auf den Begriff verzichten; angesichts mangelnder empirischer Erfahrung steht und fällt der Sinn eines Bedingungslosen Grundeinkommens mit der Einschätzung der Frage, ob und wie es ggf. den Menschen dient. So zwingt das BGE in die Konfrontation mit grundlegenden Fragen des Menschseins. Dieser Herausforderung muss sich jede(r) Einzelne stellen, so wie es zum Auftakt der Utopie-Wochen exemplarisch der Skeptiker Matthias GREFFRATH und der Befürworter Franz SEGBERS taten.
Ersterer orientierte sich dabei vor allem an einem Arbeitsethos, das er in der christlich-abend-ländischen Tradition verwirklicht und eng mit dem Prinzip notwendiger Reziprozität von Leistung und Gegenleistung verknüpft sah. Zwar kritisierte auch er Missbräuche und Auswüchse neoliberalen Wirtschaftens im Rahmen des kapitalistischen Systems, wollte aber zugleich die mittels immer intensiverer Kapitalverwertung ermöglichten Errungenschaften und „Wohltaten" gewürdigt sehen.
Der Theologe und Sozialethiker Franz SEGBERS stellte einer solchen, seiner Auffassung nach einseitigen und falschen historischen Bewertung den Hinweis auf eine umfassende, seit der Antike im gesamten Abendland und darüber hinaus nachweisbare Wertetradition gegenüber.
Darin seien von jeher Gier und Anhäufung von Reichtümern verabscheut und verurteilt worden.
Der darauf beruhende, bis vor etwa 500 Jahren gültige kultur- und religionsübergreifende soziale Grundkonsens sei eindeutig erstmalig entscheidend und dann immer gründlicher mit dem Kapitalismus in Frage gestellt worden. Schon mit dem Industriekapitalismus, aber erst recht heute mit dem Finanzkapitalismus werde er systematisch in immer krasserer Form untergraben.
Die Berliner Psychologin und Publizistin Adrienne GOEHLER und die Bundesvorsitzende der kathol-ischen Arbeiterbewegung Regina STIELER-HINZ unterstützten diese kritische Position von ihrer je spezifischen Warte: GOEHLER, indem sie auf die fatalen psychologischen Konsequenzen neoliberalen Wirtschaftens hinwies. Bei Millionen von Menschen wachse eine überbordende Existenzangst.
Kreativitätspotenziale würden so verschüttet oder blockiert. STIELER-HINZ hob ihrerseits Chancen hervor, die grundsätzlich in einem BGE, aber auch schon in Versuchen partieller Umsetzung, wie etwa einer bedingungslosen Grundsicherung für Kinder und Jugendliche, lägen. Alle drei (SEGBERS, GOEHLER, STIELER-HINZ) erwarteten, dass ein BGE nicht nur extreme Armut abschaffen und
verzweifelten Menschen wieder Hoffnung geben könne. Sie unterstrichen auch ihre Überzeugung, dass ein BGE mehrheitlich eine menschlich produktive und kreative Dynamik auslösen werde.
Die Kontroverse ums Menschenbild wird hier besonders ausführlich wiedergegeben, weil sie auch bei den folgenden vier Workshops für die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern, Skeptikern und Kritikern des BGE ihre Bedeutung behielt. Die Frage nach dem Menschenbild wurde zwar nur noch sporadisch explizit thematisiert, war aber stets als Folie aller weiteren Diskussionen präsent.

 

1. Der erste Workshop stand unter dem Rahmenthema: Ökologisch-ökonomische Krise und BGE – Chance für ein nachhaltigeres Wirtschaften?!


Niko PAECH, bekannt als radikaler Wachstumskritiker, aber auch als Skeptiker im Hinblick auf ein BGE, machte mit einer Reihe rhetorisch formulierter Fragen kein Hehl aus seinem durch Misstrauen und Kontrollbedürfnis geprägten Menschenbild:
1. Wie in einer endlichen Welt materielle Ansprüche ohne Gegenleistung rechtfertigen?
2. Würde ein BGE nicht das aktuell dominierende Fremdversorgungssystem untermauern?
3. Wie können in einer Gesellschaft soziale Strukturen stabilisiert werden, wenn es keine reziproken Leistungen gäbe?
4. Würde ein BGE nicht zum Einfallstor, das Ansprüche ins Unermessliche wachsen ließe?
Dagegen gab es entschiedenen Widerspruch, formuliert insbesondere von den BGE-Befürworter/
Innen Christine AX, Mit-Autorin des kürzlich veröffentlichten Buches „Wachstumswahn" und von Ulrich SCHACHTSCHNEIDER, Verfechter eines „Ökologischen Grundeinkommens". Beiden war die durch ein BGE geförderte individuelle Freiheit und Selbstbestimmung wichtig. Warum sollte, in Abgrenzung gegenüber Niko PAECH, ein BGE nicht ebenso gut dazu führen, dass Menschen sich wieder in höherem Maße selbst versorgen? Sind wechselseitiges Vertrauen und Zutrauen nicht sogar die besseren Garanten für stabile soziale Strukturen? Schließlich: Warum sollten Ansprüche ins Unermessliche wachsen, wenn das BGE Menschen die materielle Existenz und bescheidene gesellschaftliche Teilhabe garantiere, zumal wenn besondere Qualitäten und Kompetenzen der Menschen, wie z.B. ihr handwerkliches Können, wieder mehr wertgeschätzt würden?
Der vierte Referent, Bruno KERN, Vertreter einer „ökosozialistischen" Position, machte dagegen kein Hehl aus seiner kritischen Einstellung gegenüber dem BGE. Befremdlich dürfte den Befürworter/
Innen des BGE dabei erschienen sein, dass KERN ihnen i h r eigenes Menschenbild vorhielt; so meinte er, mit der Betonung des Menschenrechts auf Selbstbestimmung redeten sie einem übermäßigen Individualismus das Wort, bzw. vernachlässigten das Prinzip notwendiger gesellschaftlicher Solidarität. Für überzeugte Befürworter des BGE gehören freilich Selbstbestimmung und Motivation zu solidarischem Handeln eng zusammen, ist das Eine gar nicht ohne das Andere vorstellbar.

 

2. Der zweite Workshop war einem weiteren umfassenden und höchst komplexen Thema gewidmet:


Krise des Finanz- und Steuersystems und BGE– Chance für einen angemessenen Umgang mit Geld?!
Der Workshop gliederte sich im Wesentlichen in zwei Themenfelder:


1. Fragen der Währung und Geldschöpfung, zu denen Kathrin LATSCH (von der Initiative MonNeta) und Josef HUBER (von der Initiative MONETATIVE) mit ihren Beiträgen Stellung bezogen;
erstere mit dem Schwerpunkt „REGIONALWÄHRUNGEN" als zivilgesellschaftlichen Initiativen zum Geldsystem von unten („Bottom-up-Perspektive"), letzterer mit dem Thema der „GELDSCHÖPFUNG", die wieder unabhängig von Banken und Staat zu organisieren sei („Top-down-Perspektive").


2. Fragen zum Steuersystem, die von Otto LÜDEMANN und Wolfgang HEIMANN, insbesondere unter Bezugnahme auf eine Reform weg von der Einkommensteuer hin zur Konsumsteuer sowie unter Einbeziehung der Gewährleistung eines BGE behandelt wurden.
Im Unterschied zu Workshop 1 gab es unter den Referent/Innen keinen Dissens über die grund-sätzliche Wünsch- und auch Realisierbarkeit eines Bedingungslosen Grundeinkommens. Unterschiedliche finanzielle Ressourcen könnten sich, soweit politisch gewollt, mit diversen Zugängen und Modalitäten bei der Umsetzung eines BGE verbinden.
Auf grundlegende Fehler im Finanzsystem wiesen sowohl Kathrin LATSCH als auch Josef HUBER hin, erstere insbesondere auf das Problem des gleichzeitigen exponentiellen Wachstums von Schulden und Vermögen, letzterer vor allem auf den seiner Auffassung nach folgenschweren Umstand, dass die Geldschöpfungskompetenz sich mittels des Giralgeldes überwiegend in der Hand privater Geschäftsbanken befinde. Eine Vielfalt von Geldwährungen würde das Wirtschaften auf eine breitere und nachhaltigere Basis stellen. Die exklusive Zuweisung der Geldschöpfungskompetenz an eine „Monetative" als unabhängige vierte Gewalt im Staat neben Legislative, Exekutive und Judikative würde mittelfristig zu einer Entschuldung des Staates führen; ferner, mit der Einführung eines „Vollgeldes" an Stelle des „Giralgeldes", zu einer Freisetzung fiskalischer Ressourcen, die eben auch für ein BGE genutzt werden könnten.
Dies entsprach auch der Überzeugung der folgenden Referenten, Otto LÜDEMANN und Wolfgang HEIMANN, die sich in ihren Beiträgen dem Projekt einer Steuerreform, - weg von der Einkommen- und hin zur Konsumsteuer, - widmeten. Den krisengeschüttelten gesellschaftlichen Ist-Zustand stellte Otto LÜDEMANN als ein zunehmend gestörtes, im Sinne von Erich Fromms Begriff der „Pathologie der Normalität" krankes Grundteilungsverhältnis der gesellschaftlichen Aufgaben dar.
Insbesondere das Steuersystem könne als ein wesentliches gesellschaftliches Teilsystem seiner „Steuerungsfunktion" nicht mehr gerecht werden. Statt Defizite auszugleichen und Umverteilungen zu ermöglichen, erweise es sich nachweislich selbst als Schuldentreiber. Anhand einer kritischen Analyse der Abläufe im aktuellen System machte Wolfgang HEIMANN vor allem die Lohn- und Einkommensteuer sowie die Sozialabgaben dafür verantwortlich. In der Folge von Rationalisierungen, Standortverlagerungen von Unternehmen in Billiglohnländer sowie dadurch bewirkte Abflüsse von Kapital schrumpfe empfindlich die finanzielle Basis für dringend benötigte Infrastrukturaufgaben.
Als Therapie für den „Patienten" Steuersystem wurde eine weitgehende Umstellung auf die Konsumsteuer vorgeschlagen; das Bedingungslose Grundeinkommen wäre dabei in Form eines „ausgezahlten Grundfreibetrags" Teil der Reform. Ausdrücklich betonten die Referenten erhebliche gemeinsame Schnittmengen und daraus abgeleitete mögliche Synergien mit Ulrich SCHACHT-SCHNEIDERs im 1.Workshop vorgetragenen Vorschlag eines „ökologischen Grundeinkommens", basiert dieser doch im Wesentlichen auf einer Konsumsteuer, bzw. wäre damit kompatibel.

3. Beim dritten Workshop zum Thema „Demokratie-Krise und BGE – Chance für einen demokrati-scheren Umgang mit Macht" gingen die Referenten jeweils auf einzelne zu Beginn formulierte Fragen der Teilnehmer/Innen, ein, darunter die nach der Bedeutung der geschichtlichen Entwicklung der Demokratie für die Bewertung der Idee des BGE. Cord WÖHLKE, Geschäftsführer einer bekannten Hamburger Drogeriekette, sah das Nebeneinander von protestantischem Arbeitsethos und katho-lischer Morallehre als bedeutsam für die Einstellung zum BGE an, überspitzt formuliert, im Sinne einer Gegenüberstellung der Maximen „Leben, um zu arbeiten" und „Arbeiten, um zu leben". Tatsächlich fällt auf, dass Vertreter der protestantischen Kirche dem BGE bisher insgesamt zurückhaltender gegenüberzustehen scheinen als die der katholischen Kirche.

Bezüglich der europäischen Institutionen ging Cord WÖHLKE von der Notwendigkeit einer Neudefinition ihrer Aufgaben aus; andererseits sah er die Idee eines europäischen BGE als verfrüht an; es gebe dafür zu große soziale und wirtschaftliche Unterschiede, insbesondere zwischen Deutschland und den übrigen europäischen Ländern.
Der zweite Referent, Serge EMBACHER, formulierte seinerseits stichwortartig einige Thesen zur Diagnose der aktuellen politischen Situation in Deutschland. Diese sei vor allem durch die in den letzten Jahren konsequent vorangetriebene „Ökonomisierung aller Bereiche der Gesellschaft" geprägt.
Parallel dazu sei es zu einer „Pervertierung des Sozialstaats" gekommen, erkennbar z.B. an der „Umkehr der Beweislast" im Verhältnis von Behörden und Betroffenen, Zynismus sei „salonfähig" geworden, „selbsternannte Eliten hätten sich entkoppelt" und „Leistungsversprechen seien brüchig geworden". Insgesamt ergebe sich daraus eine „tiefe Krise und Ratlosigkeit der verfassten Politik".
Symptome seien:„wider besseres Wissen das „Festhalten am Wachstumsparadigma", „Entsolidarisierung", „Politikmüdigkeit", „immer weniger Transparenz", „immer mehr Lobbyismus". Gegen diese deprimierenden Tendenzen forderte Serge EMBACHER „Engagement für eine solidarische Bürgergesellschaft", das BGE könne die Funktion „eines neuen Fundaments für den Sozialstaat und für eine neue Bürgergesellschaft" übernehmen. Die Konsequenz wäre das „Aus für Prekariat und Ausbeutung". Ungeahnte Chancen könnten sich im Rahmen einer neuen Bürgergesellschaft ergeben, wie auch für ein neues Selbstverständnis von Staat und Gesellschaftsvertrag insgesamt.
Letzter Beitragender in diesem Workshop war Sascha LIEBERMANN, der bei grundsätzlicher Zustimmung zu den von Serge EMBACHER vorgetragenen Thesen sich davon gleichwohl partiell abgrenzte; das in Deutschland vorhandene Potenzial für Demokratiebegeisterung und bürgerschaftliches Engagement schätzte er geringer ein und führte dafür eine Reihe von Begründungen an. So verwies er auf skeptische Stellungnahmen prominenter Persönlichkeiten wie z.B. des Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff oder auch von Ralph Welter (von der Katholischen Arbeitnehmerbewegung) zur Frage der Opportunität der Einführung eines BGE. Beide sähen die Bürger als nicht „reif" für eine solche politische Entscheidung an. Diese Einschätzung sei überdies weit verbreitet, auch wenn sie eher Ausdruck eines vorurteilsbehafteten, vorauseilenden Gehorsams als von reflektierten Überzeugungen sei.

4. Beim vierten Workshop zum Thema „Krise des Sozialstaats - Das BGE, Chance für ein menschlicheres System sozialer Sicherung" sprang für die erkrankte Referentin Inge HANNEMANN spontan Bettina DETTMER ein, eine zusammen mit ihrer alleinerziehenden Tochter und ihrer Enkelin schon in dritter Generation von HARTZ-IV betroffene Hamburgerin. Als studierte Ethnologin verstand sie es, eigene Betroffenheit und gesellschaftskritische Analysen überzeugend miteinander zu verbinden. Ihren kritischen Beitrag machte sie dabei an der Vieldeutigkeit des im Titel des Workshops enthaltenen Wortes „sozial" fest. Gemäß DUDEN seien Synonyme für das Wort sozial z.B. so unterschiedliche Adjektive wie „gesellschaftlich", „gemeinnützig" und „barmherzig", keine dieser Wortbedeutungen treffe jedoch auf Hartz IV als angeblich „soziales" Sicherungssystem zu. Hartz IV garantiere keine „soziale", sondern allenfalls eine „Einkommenssicherung", und auch das nur eingeschränkt, denn Kinder einer sog. Bedarfsgemeinschaft dürften z.B. nicht hinzuverdienen. Typisch sei, dass Im Hartz-IV-Jargon Alter, Krankheit und Pflegebedürftigkeit „soziale Risiken" darstellten. Historisch erklärte Bettina DETTMER dies aus der Entwicklung der Industriegesellschaft als einer nicht durch „Fülle" sondern zunehmend durch „Mangel" definierten Gesellschaft; Aktuelle „soziale Sicherungssysteme" seien in diesem Sinne „organisierte Systeme von Mangelzuständen".
Die Regeln dieser Systeme müsse man paradoxerweise als „asozial" bezeichnen. Im Kontrast dazu sei ein Bedingungsloses Grundeinkommen ein Schritt in Richtung einer Gesellschaft der „Fülle", wo das Adjektiv „sozial" seine ursprüngliche positive Bedeutung zurückgewinnen könne.
Der zweite Referent, Ralph BOES, versuchte die Frage zu beantworten, wie unser Sozialsystem in die von Bettina DETTMER skizzierte Krise geraten sei. Vor der Hartz-IV Regelung habe noch das doppelte Prinzip gegolten: „Soviel Zuwendung wie nötig, aber auch soviel wie möglich".
Das System sei jedoch aufgrund der drastischen Zunahme der Zahl an Bedürftigen an seine Grenzen gestoßen; Das Hartz IV-Prinzip laute nunmehr: „So viele Menschen wie möglich zurück in den Arbeitsmarkt, auch wenn der das nicht mehr hergebe!" Daraus hätten sich neue „Zumutbarkeits-regeln" ergeben mit der Folge zunehmender Demütigung der Menschen.
Die Praxis der Sanktionierung mache die Menschen rechtlos. Das BGE weise demgegenüber den Ausweg aus dieser heillosen Krise. Es könne zwar nicht von heute auf morgen eingeführt werden. Wohl aber böten sich Modelle einer partiellen Einführung an, sei es zunächst in Form einer Grundsicherung für Kinder und alte Menschen, sei es in Form einer Einführung mit allmählicher Erhöhung des Zuwendungsbetrags.
Adrienne GOEHLER, dritte und letzte Referentin in diesem Workshop, konnte gut an den Ausführungen von Ralph BOES anknüpfen, insofern sie, ähnlich wie schon in ihrem Beitrag beim Auftakt, nochmals die Bedeutung der durch das Hartz-IV-System geschürten Existenzängste der Menschen hervorhob. Über die Sorge ums materielle Überleben hinaus wies sie besonders auf die Konsequenzen für die Psyche und die kulturelle Identität der Menschen hin. Selbst wer noch einen Job habe oder einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachgehe, finde sich immer häufiger in der Situation eines ständigen Überlebenskampfes, vergleichbar dem sinnlosen Bemühen des Hamsters in seinem Hamsterrad. Ausgehend von dieser Metapher forderte sie ein neues Nachdenken über Grundvoraussetzungen der Gesellschaft und der Kultur. Dringend geboten sei z.B., dass Freiberufler und Kulturschaffende, aus ihrer Sicht „Avantgarde der prekär Beschäftigten", aus der „Tretmühle" ihrer nur noch projektförmigen Arbeitsverhältnisse befreit würden. Sie bräuchten dringend mehr Freiraum und Muße für echte schöpferische Prozesse, das BGE sei dafür wie geschaffen.
Ähnlich wie beim zweiten und dritten entwickelte sich auch beim vieren und letzten Workshop zwischen den Referent/Innen keine grundlegende Kontroverse über die Wünschbarkeit eines BGE. Vielmehr prangerten alle Referent/Innen lediglich aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Absurdität des aktuellen Systems, und damit auch des darin praktizierten Menschenbilds an. Von der Politik forderten sie, das BGE ernsthaft als Lösungsansatz zu prüfen.

Bei der Schlussveranstaltung nahmen beim ersten Podium zum Thema „Postwachstums-ökonomie und BGE", ergänzend zu den bereits im ersten Workshop formulierten Positionen von Niko PAECH und Ulrich SCHACHTSCHNEIDER, Valerie WILMS, MdB der Grünen, und Günther REIFER, Vertreter der Gemeinwohlökonomie-Bewegung Stellung.
Valerie WILMS präzisierte kurz die Position ihrer Partei zum BGE. Faktisch gebe es derzeit keine bundeseinheitliche Position der Grünen in dieser Frage. In Schleswig Holstein sei man sich einig, die Hartz-IV-Bürokratie abschaffen und dafür ein BGE über eine „negative Einkommensteuer" gewährleisten zu wollen. Insgesamt sei die Politik von entsprechenden Entscheidungen jedoch noch weit entfernt. Diese skeptische Einschätzung stützte sie vor allem auf ihre Erfahrungen als Mitglied einer Enquête-Kommission zum Thema „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft" (2010 – 2013). Das BGE sei in der Arbeit dieser Kommission nicht einmal ernsthaft diskutiert worden.
Optimistischer hörte sich der Beitrag Günther REIFERS an, insofern er dafür plädierte, die Dinge praktisch anzupacken, wofür sich die von ihm vertretene Gemeinwohlökonomie (GWÖ) freilich auch in besonderem Maße anbiete. Kleinere und auch größere Schritte seien durchaus möglich, wenn ein Umdenk- und Transformationsprozess erstmal in Gang komme.
In der folgenden Diskussion der 4 Referenten untereinander blieben die unterschiedlichen Positionen freilich weitgehend unüberbrückbar nebeneinander stehen. Theorie und Praxis klafften offensichtlich zu weit auseinander, aber auch unterschiedliche Menschenbilder bestimmten weiterhin die Debatte.

Weniger kontrovers verlief das zweite Podium zur Frage: „Soziales Sicherungssystem Hartz IV – abgewirtschaftet oder reformfähig?", das die Diskussion des vierten Workshops noch einmal aufnahm. Trotz unterschiedlicher thematischer Akzente waren die Referent/Innen Roswitha PIOCH und Ralph BOES sich einig, dass neben der Dominanz der neoliberalen Ideologie die zu enge Verknüpfung des sozialen Sicherungssystems mit dem Arbeitsmarkt das zentrale Problem bilde.
In diesem Sinne setze das BGE der Arbeitsmarktlogik eine andere Logik entgegen, deren Botschaft an die Gesellschaft laute: „Jeder gehört dazu!".

Auch die Abschlussrunde zum Thema: "Wie wir künftig in Europa leben wollen, z. B. mit einem BGE!" war eher durch grundsätzlichen Konsens bestimmt. Während Gerald HÄFNER ein flammendes Plädoyer für ein friedliches, demokratisches und solidarisches Europa hielt, zu dem seiner Überzeugung nach ein BGE einen wesentlichen Beitrag leisten könnte, wünschten sich Klaus KARWAT und Otto LÜDEMANN als Antwort auf die Frage nach unserem künftigen Leben in Europa dazu ergänzend eine radikale Reform des Geld- bzw. des Steuersystems. Klaus KARWAT plädierte, wie schon Josef HUBER im zweiten Workshop, in diesem Sinne für eine „Monetative" als vierte Staatsgewalt und eine Vollgeldreform, Otto LÜDEMANN unterstrich erneut die Qualitäten einer Konsumsteuer und ging zugleich auf deren mögliche Synergien mit der Gemeinwohlökonomie oder auch einer konsequenten Geldreform ein.
Beide Ansätze könnten, auf europäischer Ebene umgesetzt, einen entscheidenden Beitrag zu der immer dringlicher gebotenen Solidarität der Menschen in Europa leisten. Dies war auch für Manuel FRANZMANN eine der entscheidenden Herausforderungen, der europäische Politik sich bisher nicht bzw. immer nur unzureichend gestellt hat. Für ihn ist die Eurokrise im Wesentlichen eine Bestätigung der von manchen Ökonomen von Anfang an vertretenen These, dass eine Währungsunion ohne gleichzeitige Verwirklichung einer politischen und zugleich auch sozialen Union im Grunde auf Dauer nicht tragfähig sei. Er unterstützte deshalb grundsätzlich auch Philippe van PARIJS' Vorschlag einer „Eurodividende", also die Idee, den Erlös aus einer begrenzten Mehrwertsteuer-Erhöhung in allen EU-Ländern in Form eines zunächst nur bescheidenen „Sockel-Grundeinkommens" an alle Bürgerinnen und Bürger in Europa zurückzuzahlen. Das Prinzip eines Grundeinkommens wäre damit schon einmal eingeführt. Wenngleich noch nicht „bedingungslos", wäre es doch Ausdruck des politischen Willens, mit einer konkreten Utopie Ernst zu machen.

 

An den Podien / Workshops der Utopie-Wochen 2014 waren beteiligt:

Auftakt:
Adrienne GOEHLER, Matthias GREFFRATH, Prof. Franz SEGBERS, Regina STIELER-HINZ
Moderation: Sven-PRIEN-RIBCKE

Workshop 1: Prof. Dr. Niko PAECH, Dr. Bruno KERN, Christine AX, Dr. Ulrich SCHACHTSCHNEIDER
Moderation: Rainer AMMERMANN / Martin KAUFMANN
Workshop 2: Prof. Dr. Josef HUBER, Kathrin LATSCH, Prof. Dr. Otto LÜDEMANN, Wolfgang HEIMANN
Moderation: Rainer AMMERMANN
Workshop 3: Dr. Serge EMBACHER, Cord WÖHLKE, Prof. Dr. Sascha LIEBERMANN
Moderation: Rainer AMMERMANN, / Martin KAUFMANN
Workshop 4: Bettina DETTMER, Ralph BOES, Adrienne GOEHLER
Moderation: Rainer AMMERMANN / Martin KAUFMANN

Abschluss:
PODIUM 1: Dr. Valerie WILMS (MdB), Prof. Dr. Niko PAECH, DR. Günther REIFER, Dr. Ulrich SCHACHTSCHNEIDER / Moderation: Dr. Geseko von LÜPKE
PODIUM 2: Prof. Dr. Roswitha PIOCH, Ralph BOES / Moderation: Rainer AMMERMANN
PODIUM 3: Gerald HÄFNER, Klaus KARWAT, Prof. Dr. Otto LÜDEMANN, Dr. Manuel FRANZMANN /
Moderation: Dr. Geseko von LÜPKE


 

 

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