Rezensionen

 Bücher von Interesse von unseren AutorInnen rezensiert

Ladenthin/Nostadt/Krautz (Hg.):

Weniger ist weniger – G8 und die Kollateralschäden

(Rezension von Georg Osterfeld)

Einer Anlassschrift, die auf öffentliche Wirkung setzt, ist immer mit Skepsis zu begegnen. Einerseits, weil es bei der Präsentation einer Perspektive zu ermüdenden Wiederholungen kommen kann, andererseits, weil bei pädagogischen Neuerungen gerne ein nostalgischer Idealzustand in der Vergangenheit projiziert wird, der die jetzige Realität schlecht erscheinen lässt (Loriot: „Früher war mehr Lametta“).

 

Dieser Sammelband erfüllt die skeptischen Erwartungen nicht, weil das G8 (Abitur nach 8 Jahren Gymnasium) aus verschiedenen Blickwinkeln (Eltern, Psychologie, Schule, Universität) kritisch befragt wird. Die eindeutig negative Bewertung dieser Neuerung entspringt nicht Vorurteilen, sondern Begründungen. Dem Rezensenten, der selbst als Lehrer Erfahrungen mit G8 machen konnte, erscheinen diese treffend und einleuchtend. Als einziges positives Resultat sieht er die Verbesserung der Berufspraktikumsberichte dadurch, dass das Praktikum nun in der Oberstufe stattfindet.

Die Autoren prüfen das G8 unter vier Aspekten:

  • sie fragen nach der inhaltlichen Qualität von Bildung, zu der auch das Üben/Einüben und die Reflektion gehören, sie postulieren eine entwicklungspsychologisch begründete Lernfolge;
  • sie fragen nach den Leitbildern, an denen sich humanistische Bildung und humanes Lernen orientieren können, als Gegenbild zum nur funktionierenden „homo oeconomicus“;
  • sie fragen nach der Effizienz dieser Maßnahmen, wenn die finanziellen Einsparungen durch Kosten für Vorkurse an Universitäten aufgefressen werden;
  • sie hinterfragen die angebliche funktionale Kompetenzorientierung.


Der Biologiedidaktiker Hans Peter Klein prüft die Reparaturversuche zur Rettung des G8. Sie seien nicht geeignet das Hauptproblem der mangelnden Zeit zu lösen. Studien, die G8 Absolventen eine ebenbürtige Qualifikation bescheinigen, seien methodisch fragwürdig, weil die Selbsteinschätzung der Studienanfänger erfragt wurde, nicht jedoch deren reale fachlichen Kenntnisse. Seltsam erscheint Klein die Einigkeit für G8 zwischen Gymnasialgegnern, die eine Schwächung des Gymnasiums erwarten, und Gymnasialbefürwortern, die nun eine leistungsstarke Schule erhoffen.
Der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin konstatiert, dass das Abitur nach G8 nicht mehr als „Allgemeine Hochschulreife“ betrachtet werden kann. Dies zeige sich:

  • an der hohen Zahl von Studienabbrechern trotz guter Abiturnoten;
  • an eigenen Erfahrungen mit Klausuren der Studienanfänger;
  • an der Fülle von Vorkursen, die nachholten, was im schulischen Lehrplan vorgesehen, aber nicht erreicht worden sei.

Die mangelnden Voraussetzungen führten zu Verwechslung von Aussagentypen, zu mangelnder Differenzierung zwischen Theorien und Realität, zu geringem Problembewusstsein und zu Egozentrik, bei der persönlichem Gefallen oder Missfallen Wertungsmaßstab sei. Ladenthin sieht die Studierenden durchaus als freundlich, kommunikativ, fleißig und gutwillig an, ihnen fehle es an kognitiver Entwicklung zur angemessenen Aufnahme komplexer Prozesse, an wissenschaftlicher Diskussionsfähigkeit und an Lösungskompetenz moralischer Konfliktsituationen, die oft ohne Berücksichtigung von Gerechtigkeitsprinzipien gelöst würden. Das Interview, das Klein und Ladenthin führen greift die Argumentation pointiert auf. Es sei als Einführung oder als Fazit dieses Bandes empfohlen.


Der Jura-Professor Christian Baldus postuliert eine „kontrollierte Überforderung“ von Schülern und Studenten, weil es diese im späteren Berufsleben (z.B. als Jurist) auch immer geben werde. Um dies Überforderung meistern zu können, sei „Methode“ wichtig: Ein Jurist müsse reflektierte Entscheidungen treffen können, die sich einerseits am Gesetzestext, andererseits am konkreten Fall zu orientieren haben. Weder Auswendiglernen, noch flotte Formulierungen oder aufwändige Präsentationen seien hilfreich. Beim Erwerb dieser Methode könne der Student seine eigenen Grenzen erkennen, aber auch sich innerhalb dieser frei zu bewegen. Neben methodischen und sprachlichen Fähigkeiten solle die Schule den begründeten Zweifel vermitteln. Wenn beispielsweise der BGH eine mögliche Auslegung vertrete, sei diese nicht eine beliebige, aber auch nur eine denkbare.


Einen „Kontrapunkt“ zur „kontrollierten Überforderung“ setzt die Diplompsychologin Anja Norstadt in ihrem Beitrag, der die unkontrollierte und permanente Überforderung der Schüler im G8 analysiert. Die tägliche Stundenzahl habe zugenommen, die Lehrinhalte seien gekürzt worden, es fehle an Muße für Erwerb von Transferleistungen. Diese könnten auch erst in einem bestimmten Reifestadium erbracht werden. Die Absolventen würden trotz Stress und Nachhilfe unreif in Beruf oder Studium entlassen. Die Schritte, die in NRW zur Linderung einzelner Symptome vorgenommen worden sind, bewertet sie als eine „Endlosgeschichte stets neuer verzweifelter Hilfsmaßnehmen“. Die Vorstellung der Bürgerbewegung gegen G8 resultiert in der optimistischen Perspektive, dass eine Bildungspolitik gegen die Bevölkerungsmehrheit für das neunjährige Gymnasium nicht funktionieren kann.


Der Psychologieprofessor Rainer Dollase setzt sich polemisch pointiert mit den Argumenten der Befürworter auseinander: Wegen des globalen Wettbewerbes brauche Deutschland ein gutes Bildungsniveau, gleichzeitig seien die Schulabsolventen zu alt. Die Schulzeitverkürzung sei als notwendig umgesetzt, der erste Teil der Analyse aber nicht beachtet worden. Um den Schülern in kürzerer Zeit einen Abschluss zukommen zu lassen, werde weniger Wissen und Können verlangt. Mit diesem Denkansatz könne auch über ein G 6 mit Herausforderungen auf dem „Anforderungsniveau der norddeutschen Tiefebene“ diskutiert werden.


Der Erziehungswissenschaftler Axel Bernd Kunze vertritt ein differenziertes Schulsystem, das das Menschenrecht auf Bildung umsetzt. Die Vermittlung der Fähigkeiten, aktiv etwas zur Gesellschaft beizutragen und sich selbst zu entfalten, setzte ein stützendes Ethos voraus. Für Kunze kommt es auf faire Chancengleichheit an, die die bestmöglichen Bedingungen für alle schafft. Die ungleiche Verteilung der Ergebnisse sei nicht ungerecht, solange Diskriminierungsfreiheit herrsche. Er greift die aktuelle Diskussion um die Realisierung der Inklusion auf; eine institutionelle Inklusion bringe neue Selektionsmechanismen, die noch unabsehbare, auch negative Konsequenzen hätten. Eine institutionelle Trennung sei nicht automatisch mit mangelnder Wertschätzung oder Ausschluss verbunden, sondern könne auch Ausdruck bestmöglicher Gerechtigkeit sein.


Der Erziehungswissenschaftler Matthias Burchhardt setzt seinen Schwerpunkt auf die kritische Analyse der Ökonomisierung von Bildungsprozessen. Nicht der nostalgische Rückzug auf ein angebliches Bildungsideal sei sinnvoll, sondern die Bildung und Ausbildung für die Lebensfelder des Menschen, die eben nicht nur ökonomisch sind. Die Reduzierung auf „Anstellbarkeit“ könne nicht der Sinn schulischer und hochschulischer Bildung sein, sondern nur ein Teilaspekt. Burchhardt beschreibt kenntnisreich die Mechanismen, mit denen Kritiker des ökonomischen Kurses desorientiert werden sollen. Die hier erwähnten kindischen Spielchen zur „Integration von Abweichlern“ sind dem Verfasser aus leidvoller Erfahrung bekannt.


Der Kunstdidaktiker Jochen Krautz sieht im Kompetenzbegriff, der den Schulen aufgestülpt wurde und inhaltlich-methodische Curricula verdrängen soll, das Hauptproblem. Als Vorbemerkung: Die Kompetenzrichtlinie eines Faches fordert beispielsweise, dass die Schüler sich angeleitet Informationen beschaffen, eigene Standpunkte begründen, Projekte planen und eigenverantwortlich handeln können. Hier geht es um den Islamischen RU für die Klassen 5/6, welche Inhalte er haben soll, ist nicht erkennbar. Wegen dieser Leerformelhaftigkeit charakterisiert Krautz den Kompetenzbegriff als „Containerbegriff“, in diesen Container könnte alles gefasst werden. Eingeführt worden sei er, um Bildung messbar zumachen, um einheitliche Maßstäbe unabhängig von Inhalten und Kultur zu haben. Durch Kompetenzkataloge, die beliebig aufteilbar und erweiterbar sind, werde ein natürlicher Lernvorgang in Kompetenzteilchen zergliedert, deren Zusammenfügung nicht mehr möglich sei. Die Kompentenzorientierung führe zu „sinn-losem“ Lernen, weil die Inhalte eines Faches zweitrangig werden. Beispielsweise sei es bei der Lesekompetenz egal, was man lese; es kann Goethe oder ein Gebrauchanweisung sein. Die Kompetenz, Fremdwörter aus einem lateinischen Text zu erkennen, habe nichts mit dem Erlernen der Sprache gemein. Diese „Sinn-losigkeit“ hat nach Krautz zwei sehr bedenkliche Auswirkungen:

  • Da Kompetenzen ethisch neutral seien, könne es nicht zur Ausbildung von kritischem Urteilsvermögen und Moralität kommen. Auch der Bombenbau brauche physikalische, die Leitung einer Verbrecherbande soziale Kompetenzen.
  • Die Demokratie sei gefährdet, da das Leitbild des mündigen Bürgers, der Sachfragen verhandelt und am Gemeinwohl orientiert sei, aufgegeben werde.

Fazit: ein sehr lesenswertes multiperspektivisches Buch. Den Optimismus über das Ende von G8 scheint gerechtfertigt, wenn in der aktuellen Diskussion in NRW keine Partei das G8 in dieser Form beibehalten will. Da die Lösungsvorschläge sehr disparat sind und die Rückkehr zum G9 Geld kosten wird, bleibt der Rezensent skeptisch. Er ist aber optimistisch, dass „trotz alledem und alledem“ viele Schüler und Studenten nicht nur ein gelungenes Studium, sondern auch ein gelungenes Leben führen werden.


Ladenthin/Nostadt/Krautz (Hg.), weniger ist weniger – G8 und die Kollateralschäden, Bonn (Verlag für Kultur und Wissenschaft) 2016, 12 €, ISBN: 9783862691067.


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